Berührung und Bewegung als achtsame und kreative Begegnung

Erschienen in „connection spezial“ Mai 01-II/01

Der 39jährige Techniker, Erich R. kommt in die Therapie, weil er Erektionsstörungen hat. Der gemeinsame Behandlungsversuch mit seiner Freundin in einer Sexualtherapie sei ein Desaster gewesen, berichtet er. Tatsächlich erweisen sich manchmal Therapieformen, die überwiegend ein Funktionieren der Patienten erreichen wollen, als unzureichend. Auch in der Therapie dieses Patienten wurde rasch deutlich, dass er einen ganzheitlicheren Therapieansatz benötigte. Ein halbes Jahr nach Therapiebeginn stellt sich zudem heraus, dass Erich bereits an Krebs erkrankt ist.

Körperpsychotherapie beinhaltet einen umfassenden Zugang zum Menschen. Die verkörperte Geist- Seele mit allen ihren Äußerungen wird einbezogen. Dazu gehört auch der geschichtliche Hintergrund einer Person. Diese körperpsychotherapeutische Sichtweise wird seit einigen Jahren auch durch die Ergebnisse der Neurowissenschaften und der Säuglingsforschung sehr untermauert. Heilung entsteht hier in einer heilsamen Beziehung. In der Begegnung mit dem Patienten sollte auch der Therapeut mit allen seinen Möglichkeiten antworten. Alle Ebenen und Elemente des Lebens der Patienten und der Therapeuten können so in die Therapie einbezogen werden. Freud sprach vom Traum als dem Königsweg zum Unbewussten. Der Körper, besonders aber der berührte Körper stellt einen mindestens ebenso wirksamen Königsweg dar.

Auf dem Boden verschiedener psychotherapeutische Schulen hat sich in der Zusammenarbeit mit Beate Gottwald-Trummer im Laufe der Zeit eine integrative körperpsychotherapeutische Arbeitsweise entwickelt. Besonders prägend waren die Hakomitherapie und die Arbeit von Albert Pesso und von Richard Schwartz. Im folgenden soll ein Einblick in unsere praktische Arbeit und quasi ein Einblick in unsere Werkstatt, die Methodik und unsere zugrunde liegenden Vorstellungen sowie die grundsätzliche therapeutische Haltung gegeben werden.

nach oben

Aus der Praxis

In den ersten Stunden der Therapie von Erich R. stand zunächst eine Klage im Vordergrund: Er funktioniere immer sehr gut, aber er habe kaum Zugang zu seinen Gefühlen. Tatsächlich kam in den nächsten Stunden immer wieder einmal ein kleiner Hauch eines für ihn selbst schwer bestimmbaren Gefühls auf. Dieses Gefühl konnte sich nicht in seinem Erleben ausbreiten, da er automatisch sehr wenig atmete. Gleichzeitig verspannte Erich sich sehr. Einmal ballte er seine rechte Hand zu einer Faust. Gleichzeitig presste er diese mit der linken Hand zusammen. Ich bot ihm an, meinen Unterarm so fest zu umklammern, wie er seine Faust zusammen presste. Er ließ sich darauf ein. Kurz darauf entrang sich seinem Brustkorb ein gequetschter und gequält klingender Laut. Ich fragte ihn, ob er einmal versuchen wollte, so mit seiner Stimme zu experimentieren, bis seine Stimme mit seiner Empfindung in Übereinstimmung sei. Während er mit seiner Stimme spielte, zog er meinen Arm mit ganzer Kraft zu sich hin. Die jetzt stärker aufkommenden Gefühle waren noch nicht klar. Aber sie waren für ihn kaum auszuhalten.

Tatsächlich können viele Menschen ihre Gefühle aus gutem Grund nicht zulassen. Vor allem, wenn Menschen in der Kindheit schwere Mangelzustände oder Traumatisierungen erlebt haben, haben sie Ängste, solche Gefühle noch einmal erleben zu müssen. Besonders der heute noch immer in ihnen steckende seelisch- körperliche Schmerz fühlt sich zu überwältigend und zu unerträglich an. Dieser Schmerz kann dann sinnvollerweise und leichter in einer körperlichen Halt gebenden, heilsamen Begegnung zum ersten Mal zugelassen und voll erlebt werden. So eine heilsame Umgebung stand in der Vergangenheit der Patienten häufig nicht zur Verfügung. Dann war es sinnvoll, sich anzuspannen, die Atmung einzuschränken, um unerträgliches Erleben einzugrenzen. Leider wird dann aber tiefere Entspannung ebenso schwer möglich wie ein intensiveres Erleben auch der anderen Gefühle wie Freude und Lust. Nicht nur unerträglichen Gefühle werden also behindert, sondern alle Gefühle und die seelische Schwingungsfähigkeit überhaupt.

In dieser Sitzung legte ich Erich nun meine andere Hand Schutz gebend auf seinen Bauch, genau auf den Solarplexus. Die Atmung vertiefte sich unmittelbar und die Veränderungen in der Stimme verdeutlichten, wie viel mehr Gefühl er nun zulassen konnte. Aber erst, als sich der Patient schließlich in meine Arme fallen ließ, löste sich die überwältigende Gefühlsmischung von Schmerz, Wut und Bedürftigkeit in ein erlösendes Schluchzen. Die zu Grunde liegende Erinnerung stieg mit auf. Der Patient musste im Alter von drei Jahren in ein Krankenhaus. Er durfte nicht von den Eltern besucht werden. Nach einiger Zeit durfte ihn die Mutter wenigstens einmal am Tage besuchen. Zum Abschied überreichte sie ihm jeweils ein Geschenk. Das war für ihn jedoch unglücklicherweise das Zeichen, dass die Mutter ihn jetzt wieder verließ.

nach oben

Die Einstellung und das Bewusstsein von Patienten und Therapeuten:

Der griechische Ursprung des Wortes Therapeut heißt „therapeuein“. Es bedeutet sinngemäß „achtsam begleiten“. Tatsächlich ist unser Selbstverständnis als Therapeut ein sehr entscheidendes Element in der Therapie. Patienten achtsam zu begleiten bedeutet nicht zuletzt, dass diese in jedem Fall ihre Würde und soweit wie möglich ihre Autonomie behalten. Sie können ihr Leben und seine Hintergründe selbst erkennen, sollen jedoch soweit wie möglich in der Lage bleiben, es selbst zu bestimmen. Die Patienten erhoffen gleichzeitig mit Recht ein möglichst hohes Expertenwissen von ihren Begleitern. Unser Expertenwissen verführt uns Therapeuten leicht dazu, für die Patienten zu wissen, wo es langgeht und ihnen unser Wissen sozusagen überzustülpen. Das geht dann manchmal nach der Devise: Wer einen Hammer kennt, dem erscheint alles in der Welt als Nagel. Therapeuten können aber letztlich niemals das Leben der Patienten und die Faktoren, die darin eine Rolle spielen, so gut überblicken wie die Patienten selbst. Die Lösung für dieses Dilemma kann sehr einfach sein: Wir müssen zusammen mit den Patienten eine achtsam meditative Grundhaltung pflegen. Der differenzierte Einsatz dieser Bewusstseinshaltung wurde von Ron Kurtz mit der Hakomitherapie in das Feld der Psychotherapie eingebracht. Er nannte sie „Innere Achtsamkeit“. Die Patienten erlernen und üben diese Bewusstseinshaltung, in der sie immer wacher und offener für alle Elemente ihrer Erfahrung werden. Sie wissen, dass sie genauso sein dürfen, wie sie sich gerade erleben. Sie brauchen nichts verändern. Sie lernen auch, in dieser Bewusstseinshaltung zu bleiben, während sie in Innerer Achtsamkeit über ihre Erfahrung sprechen. Auch bei Erich wäre das Zulassen seiner Gefühle und ihr Zusammenhang mit seiner Geschichte nicht so schnell möglich gewesen, wenn ich ihn nicht gelehrt hätte, sich achtsam wahrzunehmen.

Der Therapeut kann mit dem Patienten zahlreiche Experimente kreieren, die dieser dann ausprobiert und auswertet. Auf diese Weise wird jeder Schritt in der Therapie vom Patienten und dem Therapeuten gemeinsam kreativ neu erschaffen. Ein Höchstmaß von Lebendigkeit und achtsamer Wachheit ermöglicht es, dass eine unerschöpfliche Menge an heilsamen Möglichkeiten ausprobiert werden kann. Die Ideen und Wünsche der Patienten können probeweise umgesetzt werden. Der Therapeut kann in Form solcher Experimente mit allen seinen Möglichkeiten antworten und sein sein Expertenwissen einbringen. Dieses gemeinsame Experimentieren führt im Laufe der Zeit dazu, dass die Patienten zu immer kompetenteren Mitarbeitern im therapeutischen Prozess werden. Im gleichen Umfang steigen natürlich ihre Kompetenz und ihre Autonomie im Leben überhaupt.

Experimentelles Vorgehen, Innere Achtsamkeit, eine liebevolle Begleitung und die Ermöglichung von heilsamen Neuerfahrung sind für unsere Therapieweise grundlegend. Besonders im weiteren Verlauf der Therapie wird die Art der Selbstbegleitung des Patienten immer wichtiger. Der amerikanische Psychotherapeut Richard Schwartz hat eine Methode entwickelt, wie Patienten Zugang gewinnen können zu dem Teil ihrer Seele, den er das „Selbst “ nennt. Er bezeichnet damit in etwa die Instanz, die der Begründer der Psychosynthese, Roberto Assagioli, das „Höhere Selbst“ nannte. Einige weitere Begriffe wurden in therapeutischen oder spirituellen Systemen kreiert, um dieses Zentrum des menschlichen Bewusstseins zu beschreiben. In Indien spricht man von Atman. C.G. Jung spricht vom Archetyp des „alten Weisen“. Mit diesen verschiedenen Begriffen wird die Verfassung von Menschen umschrieben, in der sie bewusst, liebevoll, freundlich, mitfühlend, innerlich im Fluss allen andern Anteilen der eigenen Persönlichkeit zugewandt sind. Diese Verfassung entspricht einer Art seelisch-geistigem Wesenskern eines Menschen. Wie aber sprechen wir mit den Patienten über dieses „Selbst“ und die andern Anteile ihrer inneren Erfahrung?

nach oben

Eine Landkarte zum Verständnis der Struktur menschlicher Persönlichkeit

Wir verwenden in der Therapie als Analogie für die menschliche Person das Bild einer Kutsche. Das „Selbst“ im eben angedeuteten Sinne bedeutet darin den König (oder die Königin), der (oder die) in der Kutsche sitzt und die Kutscher und somit die Kutschfahrt bestimmen kann. Die Pferde entsprechen den Trieben und Wünschen. Auf dem Kutschbock sitzen zwei Kutscher: Der eine steht für die Fähigkeit achtsamen Bewusstseins, das frei ist von unangemessenen Bewertungen. Das entspricht dem Bewusstsein eines einfach wahrnehmenden Zeugen. Der andere Kutscher hält die Peitsche und die Zügel in der Hand. Somit beinhaltet er die Kraft des Willens der Persönlichkeit. Der Wille wurde lange Zeit in der Psychotherapie zu wenig als veränderndes Moment beachtet. In der Kutsche sitzen meist mehr oder weniger Fahrgäste, die für die Ansprüche, Anforderungen und Wertungen einer Person stehen. In der Psychoanalyse würden diese Anteile dem Überich entsprechen. Aber auch alte Überzeugungen können Kutschengäste sein. In der Kutsche findet natürlich auch der Kindanteil der Person Platz, den wir bildlich als Prinzessin oder Prinzen bezeichnen. Dieser Anteil braucht in der Therapie, wie in unserem Beispiel bei Erich R. , häufig die intensivste Zuwendung. Erichs Zeugenbewusstsein war am Anfang der Therapie schwach. Deshalb konnte er sich und seine inneren Empfindungen zunächst nur undifferenziert wahrnehmen. Sein Leben war bis dahin eher von „Fahrgästen“ bestimmt, die ihm signalisierten, dass er sich zusammenreißen müsse. Auch sein Wille stand überwiegend im Dienste dieser „Fahrgäste“. Er hatte kaum Zugang zu seinem königlichen „Selbst“. Deshalb konnte er sich nicht angemessen selbst unterstützen. Seine „Pferde“ wirkten eher müde und ausgebrannt. Er war depressiv.

Am besten funktioniert eine Kutsche, wenn der König und die zwei Kutscher, das achtsame Bewusstsein des Zeugen und der Wille im Dreieck zusammenarbeiten. Dann werden die Pferde und alle anderen Teile der Kutsche und der Umgebung am angemessensten berücksichtigt. Bei vielen Menschen aber wird, wie bei Erich, die Kutschfahrt von irgendwelchen Fahrgästen oder dem verletzten Kind in der Kutsche und von eher geschwächten Pferden bestimmt.

In der Therapie spricht der Therapeut so bald wie möglich das dem König Entsprechende in den Patienten an. Häufig aber wird das königliche „Selbst“ von den Stimmen der Fahrgäste und dem Gefühl des leidenden Kindes regelrecht übertönt. Am Anfang geht es lange Zeit darum, dass Patienten sich der Möglichkeit dieses königlichen Kerns überhaupt bewusst werden. Bis dahin ist ein Patient auf die Unterstützung durch den Therapeuten angewiesen. Wenn das „Selbst“ des Patienten wieder erfahrbar wird, kann er sich angemessener begleiten und die eigenen liebevollen Werte ins Spiel bringen. Er kann so auch leichter die Führung im therapeutischen Prozess übernehmen.

Der Zustand der Kutsche ist zunächst sehr abhängig davon, wie ein Mensch in seiner Vergangenheit und insbesondere in seiner Kindheit geprägt wurde. In der Therapie kommen wir deshalb nicht umhin, immer wieder die in der Vergangenheit entstandene Prägung zu berücksichtigen. Das ist altbekanntes tiefenpsychologisches Wissen, das im wesentlichen vorausgesetzt werden kann. In den letzten Jahren wurde dieses durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der Säuglingsforschung erweitert und teilweise relativiert. Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich erneut gute Gründe für ein körperpsychotherapeutisches Vorgehen in der Psychotherapie. Deshalb soll hier etwas auf einige Erkenntnisse der Neurowissenschaften eingegangen werden.

nach oben

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse und eigene Hypothesen:

Vorweg eine sehr gute Nachricht: Lebenslang ist eine Neuverschaltung von Nervenzellen im Gehirn möglich. Daraus ergibt sich, dass wir lebenslang unsere seelisch-geistige Verfassung und unser Erleben beeinflussen, erweitern und verändern können. Wir ermöglichen unseren Patienten deshalb nach einer anfänglichen Therapiephase, in der sie ihr vordergründiges Leiden lösen können, eine beliebig lange Individuationsarbeit anzuschließen, in der sie lernen, ihre Möglichkeiten weiter auszuschöpfen. Uns ist in letzter Zeit viel mehr bewusst geworden, dass wir unser Leben als ein in jedem Moment immer weiter zu entwickelndes Kunstwerk ansehen, das wir tatsächlich mitgestalten können.

Die meisten Menschen fühlen sich sowie die Erich in unserem Beispiel eher in sich wiederholenden Mustern eines bestimmten Erlebens gefangen. Das ist um so mehr der Fall, je massiver Mangel oder Traumatisierung das bisherige Leben geprägt haben. Menschliches Erleben ergibt sich nur zum kleineren Teil aus gegenwärtigen Eindrücken und Gedanken. Das Zentralnervensystem scheint andauernd die Erinnerungsspeicher nach jenen Erinnerungen abzusuchen, die zu den gegenwärtigen Erfahrungen und dem im Gehirn hervorgerufenen Erregungsmuster passen. Wir erleben also auf jeden Fall die Gegenwart immer durch den Schleier unserer Erinnerung. Diese Anlehnung an Erinnerungen ist gleichzeitig die Voraussetzung dafür, dass wir uns als eine in der Zeit beständige Identität erleben können. Wir tun uns schwer, die jeweils neue Realität anzunehmen, da wir durch diese prägenden Erinnerungsmuster in der Frische unseres Erlebens beeinträchtigt sind. Erich z. B. lebte in einer Wirklichkeit, in der der allein und von den Eltern verlassen mit seinen Gefühlen zurechtkommen musste. Ihm war wie den meisten Menschen nicht bewusst, dass unser gegenwärtiges Erleben in jedem Augenblick immer wieder neu in unserem Nervensystem erschaffen wird. Das Erleben wird meist unbewusst zusammengefügt aus neuen Reizen in Anlehnung an alte Erinnerungsmuster.

Im Leben werden durch vielfältige Auslöser nicht nur sogenannte explizite Erinnerungen aufgerufen, die dem Bewusstsein zugänglich sind (also mit Worten oder Bildern verbunden sind), sondern auch sogenannte implizite, d.h. unbewusste Erinnerungen. Man könnte diese auch Körpererinnerungen nennen. Sie beinhalten gefühlsmäßige, sinnenhafte und körperliche Anteile, die dem Bewusstsein nicht unmittelbar zugänglich sind, das Erleben aber massiv beeinflussen. Auf diese Weise wirken sich besonders frühere oder kindliche traumatische Erfahrungen sehr unangenehm im Erleben aus oder führen gar zu einer unendlichen Kette sich wiederholenden Leidens.

Die Erfahrungen sitzen buchstäblich in den Knochen und Zellen. Sie können in Innerer Achtsamkeit wieder erfahren werden, zum Beispiel über die körperliche Haltung und die Weise, wie man sich bewegt oder wie Bewegung automatisch eingeschränkt wird, oder in den Empfindungen, die in der Begegnung mit anderen auftauchen. Diese Erfahrungen können hier und jetzt in der Therapie in Achtsamkeit ausgelotet werden.

Alte Erfahrungen werden, wie gesagt, ununterbrochen aufgerufen. Sie können jedoch im Kontakt mit einer heutigen heilsamen Umgebung sinnvoll erweitert und differenziert werden. Die Bedeutung einer sicheren und entspannten Begleitung in der Therapie ist inzwischen unumstritten. Sie erlaubt es, die Erinnerung wieder aufkommen zu lassen. Ununterbrochen werden frühere Eindrücke in der Gegenwart wiederbelebt. Der Patient kann in der Therapie die Elemente seiner früheren Erfahrung in ihren Zusammenhängen erkennen. Durch ein achtsames Vergegenwärtigen von Erinnerung ist es möglich, sich noch einmal als das Kind, das man einmal war, zu erfahren. In der Vergegenwärtigung dieser vergangenen Erfahrung heute ist es möglich, neue und zusätzliche Erfahrungen zu machen. Der Patient kann wichtige Erfahrungen, die ihm damals gefehlt haben, nachholen, so wie Erich sich mit seinen schmerzlichen kindlichen Gefühlen festgehalten fühlen konnte. Das in der Kindheit geprägte Grundgefühl beeinflusst zutiefst unser Selbstgefühl und die Erfahrung unseres Daseins heute. Im Laufe der Therapie können jedoch heilsame neue Erfahrungen in frühere Erinnerungsmuster integriert werden.

Vergegenwärtigung von Erinnerungen aber macht ausdrücklich nur Sinn, wenn in der Gegenwart eine die alten Erfahrungen erweiternde heilsamere Begegnung in der Therapie möglich wird. In einer achtsamen körperpsychotherapeutischen Arbeit wird häufig spontan das Dort und Damals erinnert und kann zunehmend in Worte gekleidet werden. Das gemeinsame Verstehen dieser Erinnerung fördert eine neue Integration und Verfügbarkeit der eigenen Geschichte. Man weiß durch die neueren neurowissenschaftlichen Forschungen, dass Veränderungen in der Erfahrung der Patienten nicht einfach durch das Aufdecken frühkindlicher Traumatisierungen oder aus reiner Erkenntnis im Kopf des Patienten entstehen, sondern durch ein ganzheitliches Erleben und Durcharbeiten in der therapeutischen Beziehung. Der Einschluss der sinnenhaften, gefühlsmäßigen und verkörperten Erfahrungen in der therapeutischen Begegnung, d. h. in der „Körperresonanz“ zwischen zwei Personen oder in der Gruppe, ist inzwischen als unerlässlich anerkannt.

Die Veränderung nach wiederholenden heilsamen neuen Erfahrungen in der Therapie ist von einer organischen Veränderung des Gehirns und einer Neuverschaltung der Nervenzellen begleitet. Diese Strukturveränderung braucht jedoch Zeit und Wiederholungen, damit der Organismus diese Neuverschaltung auch schaffen kann. Unseren Patienten können deshalb in fünf- bis siebenmal jährlich stattfindenden Wochenendgruppen über längere Zeiträume mit uns arbeiten, um diese Integration zu ermöglichen. Wir ermuntern unsere Patienten, ihre in der Therapie gemachten neuen Erfahrungen so häufig wie möglich in Zeiten innerer Besinnung zu erinnern, um diese Neuverschaltung im Nervensystem zu verstärken.

An dieser Stelle reicht der Platz nicht aus, um über weitere zahlreiche Erkenntnisse der Neurowissenschaften, insbesondere auch zum Verstehen von Trauma und posttraumatischem Erleben zu berichten. Nur zwei Bemerkungen: Posttraumatisches Erleben bedeutet, dass implizite, also unbewusste Erinnerungen aufgerufen sind, somit keine ausreichende Verbindung zu Worten möglich ist. Die regulierenden Funktionen des Vorderhirns und somit von Seiten des Ichs sind damit nur sehr mangelhaft möglich. Somit ist auch in diesem Zusammenhang ein ganzheitlicher körperpsychotherapeutischer Zugang und ein ganzheitliches neues Erleben für die Heilung absolut naheliegend.

nach oben

Phasen eines in die Erinnerung vordringenden Therapieprozesses:

1. Zunächst gehen wir immer davon aus, dass alles da sein darf, was nun einmal spontan da ist. Wir bieten dem Patienten einen offenen Möglichkeitsraum an, in dem er sich auch mit Hilfe der Gegenstände im Raum frei inszenieren und gestalten kann. In diesem Prozess kann sich der Patient in der typischen Weise, wie er sich meist innerhalb seiner gewohnten Muster organisiert, in Achtsamkeit intensiver und differenzierter erfahren. (Erich konnte zum Beispiel bemerken, wie er die Faust ballte und mit anderen Hand zusammen presste. In Analogie zur o. g. Kutsche bemerkt er in anderen Therapiesitzungen in sich zum Beispiel die ihn einschränkenden Dialoge der „Fahrgäste“.

2. Die bewusste Wahrnehmung der gegenwärtigen inneren Welt. In der inneren Achtsamkeit tauchen beispielsweise häufig hinter diesen Stimmen der „Fahrgäste“ Erinnerungen an frühere Beziehungspersonen auf. Die Zusammenhänge mit dem eigenen geschichtlichen Gewordensein ergeben sich in der achtsamen Bewusstseinshaltung fast von selbst. Der Patient kann sich hier und heute noch einmal als das Kind erfahren, das er dort und damals einmal war. Er kann die Erfahrungen, die ihn geprägt haben, ganzheitlich spüren, so wie Erich seine Traumatisierung im Krankenhaus erkennen konnte. Erich konnte seine Verletzungen und das, was ihm gefehlt hat, identifizieren. Er konnte anschließend im Gespräch erkennen, welche Anschauungen und Überzeugungen über die Welt und die Menschen er auf dem Boden dieser Erfahrungen gewonnen hat.

3. In dieser Bewusstseinsverfassung ist es leichter möglich, mit dem Therapeuten eine passende verkörperte Antwort auf die in der Gegenwart neu erfahrene damalige Umgebung und die damaligen kindlichen Gefühle und die damals entstandenen Grundannahmen, also eine neue heilsame Erfahrung zu kreieren. Eine solche Antwort könnte entweder den Erfahrungshorizont des Patienten erweitern oder seinen frühen Mangel ausgleichen oder seine Traumatisierung heilen helfen. Die Antworten und Reaktionen des Therapeuten auf dieses vergegenwärtigte frühe kindliche Erleben werden mit dem ganzen Körper und allen Sinnen empfangen. Sie kommen dann wirklich bei diesen kindlichen Anteilen mit den jetzt noch einmal erlebten Verletzungen und Mangelzuständen an. Weil solche Neuerfahrungen mit allen Sinnen verkörpert erlebt werden, sind sie nicht nur oberflächliche und mentale Erkenntnisse.

4. Anschließend geht es darum, diese neue Erfahrung zu integrieren. Bevor ein Patient wieder in den Alltagszustand zurückkehrt, geben wir ihm ausreichend Zeit, der neuen Erfahrung in aller Ruhe nachspüren zu können, so dass er diese in der Erinnerung abspeichern kann.

5. Wir ermuntern die Patienten, wie bereits erwähnt , diese neuen Erinnerungen in einer ruhigen Stunde für sich selbst innen wiederherzustellen (was Erinnerung ja eigentlich auch bedeutet) und diese Erinnerungen innerlich immer wieder zu wiederholen, um so eine Verkörperung dieser neuen Erfahrung auch in ihrem Nervensystem zu ermöglichen.

nach oben

Weitere Möglichkeiten in der Therapie

In der Zusammenarbeit mit dem „Selbst“ (in Analogie zum König in der Kutsche) unserer Patienten ergibt sich eine unendliche Fülle kreativer Möglichkeiten, die zum Wachstum verhelfen oder zur Lösung von Problemen führen. Selbstverständlich muss nicht jede Behandlung die regressive Arbeit und kindliche Erinnerungen einbeziehen. Jede mit den Patienten gemeinsam kreierte Möglichkeit begreifen wir als Experiment, das absichtslos achtsam ausgewertet werden kann.

Ein Beispiel: Wir greifen eine Äußerung eines Patienten auf, er könne nicht anders, er fühle so einen Druck, er müsse sich erst die Hände waschen, bevor er aus dem Hause gehe. Wir könnten von da aus diese innere Szenerie darstellen und den Patienten einladen, in einem experimentellen Rollenspiel diese Stimme selbst auszuspielen, die dann aussprechen würde: “ Du musst erst die Hände waschen, bevor du aus dem Hause gehst!“ – Auf diese Weise wird aus der inneren automatischen Reaktion wieder eine jetzt im Raum stattfindende lebendige Interaktion, die es leichter erlaubt, die Hintergründe und Zusammenhänge eines Zwanges zu erfahren. Der Patient kann manchmal spontan durch so eine Verfremdung der Szenerie verstehen, wodurch seine automatische Reaktionen immer wieder ausgelöst werden.

Wir könnten in dem genannten Beispiel den Patienten aber auch fragen, wo er den angesprochenen Druck im Körper spürt. Anschließend würden wir ihm möglicherweise anbieten, ihm diesen inneren Druck einmal von außen anzubieten. (Diese Technik wurde von Ron Kurtz entwickelt). Auf diese Weise würden wir quasi einen Anteil seines inneren Systems übernehmen. Er könnte merken, wie es ist, diesen Druck einmal körperlich als eine Interaktion von außen erleben zu können. Auf eine solche Interaktion zu reagieren ist dann unter Umständen sehr befreiend.

Eine andere Vorgehensweise ist beispielsweise das Experiment, einem Patienten eine persönliche Antwort aus der Sicht des Therapeuten zu geben oder Expertenwissen zur Verfügung zu stellen, nachdem dieser in einer achtsamen Bewusstseinshaltung angekommen ist.

nach oben

Berührungen:

Ein wesentliches Element der Behandlung ist Berührung. Diese ist bei uns eingebettet in ein grundsätzlich freies Interaktionsgeschehen zwischen Behandler und Patienten, d.h. sie wird in jeder Situation spezifisch mit dem jeweiligen Patienten gemeinsam kreiert.

Insgesamt können wir Berührung als elementarste und hoch intensive Kontaktform ansehen. Über Berührung können gleichzeitig die frühesten, auch praeverbalen Erlebnisse des Kindes im Patienten angesprochen werden. Jede Berührung wird von uns wie jede andere Interaktion als ein Experiment verstanden, das die Erlebniswelt des Patienten in besonderer Weise verdeutlicht. Der Patient bleibt frei darin, die Richtung der nächsten Schritte dieses Experiments zu gestalten.

Berührung gibt auf der einen Seite Erkenntnisse für den Therapeuten, hat also eine diagnostische Seite. Dem Berührten vermittelt sie eine unmittelbare Erfahrung, die sich jedoch, wie oben ausgeführt, mit allen möglichen Erfahrungs- und Erinnerungsebenen mischt. Da der Hintergrund des berührten Menschen immer sehr individuell ist, können wir je nach seiner Geschichte die Wirkung einer Berührung nie ganz vorhersagen. Je feiner wir mit dem berührten Menschen im Kontakt sind und je mehr dieser geübt ist, uns achtsam seine Erfahrung mitzuteilen, um so mehr wird die Berührung zu einem gemeinsamen Erfahrungsprozess. In der Berührung kann er besonders intensiv erfahren, wie und wer er heute in den verschiedenen Erlebnisebenen ist.

Berührung beinhaltet immer eine sehr umfassende Botschaft für den Berührten. Berührung kann besonders leicht in die eigene Geschichte zurückführen. Wenn die Patienten auf diese Weise an ein prägendes kindliches Erleben angeschlossen sind, können wir ihnen unmittelbar über das Körpererleben zu einer heilsamen neuen Erfahrung verhelfen, die für zugrundeliegende Traumatisierungen oder Mangelzustände des Kindes in ihnen eine angemessene und heilsame Antwort ist. Unmittelbar können sie z. B. Schutz, Geborgenheit, Unterstützung, Anerkennung, Daseinsberechtigung oder Halt erfahren. Sie können sich geliebt fühlen oder eine Grenze erfahren. Ein Gehaltensein durch andere Menschen (im englischen treffender als containment bezeichnet) ist bei manchen Patienten die Voraussetzung dafür, schmerzliche kindliche Gefühle überhaupt zulassen zu können. Erich war dafür ein gutes Beispiel.

Berührung beinhaltet immer einen Kontakt zwischen zwei menschlichen Erlebniswelten an einer Grenze. Grenzfragen und der Umgang mit Grenzen von Seiten des Therapeuten, aber auch von Seiten des Patienten oder Klienten sind unweigerlich mit solch einer berührenden Begegnung verbunden. Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Stile von Grenzziehung: Zum einen gibt es Patienten mit einer unsicheren Erfahrung von Grenzen. Sie fühlen sich in der Möglichkeit eingeschränkt, Grenzen einhalten zu können. Dieses Problem findet man immer wieder bei selbstunsicheren Menschen. Zum anderen gibt es aber auch einen überrigiden Stil mit sehr festen Grenzziehungen, wie wir ihn z. B. bei sehr zwanghaften Patienten vorfinden. Borderlinepatienten oder Missbrauchsopfer schwanken zwischen sehr unsicheren Arten der Grenzziehung und sehr massiven Grenzsetzungsstilen hin und her. So geht es in der Berührung immer wieder darum, Patienten mit schwachen Grenzen zu helfen, Grenzen besser wahrnehmen zu können und aufmerksam zu sein, wenn sie Grenzen nicht halten können. Wenn wir uns nicht sicher sind, ob der Patient Grenzen halten kann, sollten wir ihn manchmal fragen, woran er erkennt, ob z. B. eine Berührung für ihn in Ordnung ist oder nicht. Gerade beim unmittelbaren körperlichen Kontakt sind selbstverständlich differenzierte ethische Grundsätze wichtig. Überrigiden Patienten können wir helfen, sich an der Grenze zu öffnen und einen Außeneindruck zu empfangen oder empfindsam zu werden für die Qualität des anderen Menschen, der ihn berührt.

nach oben

Verschiedene Weisen von Körperarbeit und Berührungen:

Die katalytische Körperarbeit und Berührung ist eine Arbeitsweise, die in früheres Erleben zurückführt, das mit den impliziten Erinnerungen verbunden ist. Der Patient wird in die Lage versetzt, in einer achtsamen Bewusstseinshaltung die feinen Zusammenhänge zwischen seinem gegenwärtigen Erleben und seinem geschichtlichen Hintergrund spüren zu können. Das Ziel katalytischer Körperarbeit ist, unbewusste Erinnerungen in bewusstes Erleben umzuwandeln. Es handelt sich dabei letztlich um Informationen, die dem Patienten helfen, sein Erleben und dessen Hintergründe differenzieren zu können. Der Einsatz des Stimmausdrucks bei Erich führte zum Beispiel rascher zu seinen unterdrückten Gefühlen und ihrer Geschichte.

Nährende Körperarbeit und Berührung: Der Mensch erhält eine Berührung, von der er sich genährt oder gefüllt oder aufgebaut oder unterstützt fühlt. Meist fühlt sich der Betroffene durch so eine Berührung eher geborgen oder ruhiger oder entspannter oder alles gleichzeitig. Das entscheidende Moment einer nährenden Berührung ist jedoch nicht die Suche nach Informationen und impliziten Erinnerungen, sondern die in der Gegenwart stattfindende Erfahrung von Erholung und innerer Bereicherung. Häufig folgt eine nährende Berührung der katalytischen Berührung, die in kindliches Erleben zurückgeführt hat, als heilsame heutige Erfahrung.

Aufbauende Körperarbeit ist ein weiterer bisher nicht genannter Akzent von Körperpsychotherapie. Diese Aspekt unserer Arbeit soll hier nicht im Detail ausgeführt werden. Aufbauende Körperarbeit ist übende Körperarbeit zur Zentrierung im Körper und zur Verbesserung der Balance und verbessert den Kontakt zum Boden. Solche Übungen finden im Sitzen oder im Stehen statt. Dazu gehört zunächst das Erspüren des gegenwärtigen Zustandes des Körpers. Selbstverständlich sind dabei Fragen wichtig, wo und wie sich jemand im Körper fühlt. Die Weise, wie jemand steht, hat einen Einfluss darauf, wie er einen Standpunkt in der Welt vertritt, oder wie viel Rückgrat er spürt und wie bodenständig er sich fühlt. Die Weise, wie jemand aufrecht sein kann, hat einen Bezug zu seiner Aufrichtigkeit. Die Patienten lernen im Anschluss an diese Phase des Spürens, sich in ihren Schwerpunkt im Bauch hinunter zu lassen und sich in den Verspannungen im Oberkörper loszulassen. Die Konsequenzen solcher Veränderungen verbessern nebenbei Haltungsschäden mit ihren begleitenden Schmerzen, aber vor allem die elementare psychische Befindlichkeit. Weitere Übungen betreffen den Umgang mit Chi, der im Tai Chi Chuan und dem Aikido geübten geistigen Kraft.

Erich R. hat eine Menge dieser therapeutischen Möglichkeiten kennen gelernt. Er hat inzwischen seine Therapie abgeschlossen. Er ist heute mit seiner damaligen Freundin verheiratet und hat zwei Kinder. Sein Krebs ist nicht wieder aufgetreten.

nach oben