Neurowissenschaftliche Erkenntnisse und eigene Hypothesen:
Vorweg eine sehr gute Nachricht: Lebenslang ist eine Neuverschaltung von Nervenzellen im Gehirn möglich. Daraus ergibt sich, dass wir lebenslang unsere seelisch-geistige Verfassung und unser Erleben beeinflussen, erweitern und verändern können. Wir ermöglichen unseren Patienten deshalb nach einer anfänglichen Therapiephase, in der sie ihr vordergründiges Leiden lösen können, eine beliebig lange Individuationsarbeit anzuschließen, in der sie lernen, ihre Möglichkeiten weiter auszuschöpfen. Uns ist in letzter Zeit viel mehr bewusst geworden, dass wir unser Leben als ein in jedem Moment immer weiter zu entwickelndes Kunstwerk ansehen, das wir tatsächlich mitgestalten können.
Die meisten Menschen fühlen sich sowie die Erich in unserem Beispiel eher in sich wiederholenden Mustern eines bestimmten Erlebens gefangen. Das ist um so mehr der Fall, je massiver Mangel oder Traumatisierung das bisherige Leben geprägt haben. Menschliches Erleben ergibt sich nur zum kleineren Teil aus gegenwärtigen Eindrücken und Gedanken. Das Zentralnervensystem scheint andauernd die Erinnerungsspeicher nach jenen Erinnerungen abzusuchen, die zu den gegenwärtigen Erfahrungen und dem im Gehirn hervorgerufenen Erregungsmuster passen. Wir erleben also auf jeden Fall die Gegenwart immer durch den Schleier unserer Erinnerung. Diese Anlehnung an Erinnerungen ist gleichzeitig die Voraussetzung dafür, dass wir uns als eine in der Zeit beständige Identität erleben können. Wir tun uns schwer, die jeweils neue Realität anzunehmen, da wir durch diese prägenden Erinnerungsmuster in der Frische unseres Erlebens beeinträchtigt sind. Erich z. B. lebte in einer Wirklichkeit, in der der allein und von den Eltern verlassen mit seinen Gefühlen zurechtkommen musste. Ihm war wie den meisten Menschen nicht bewusst, dass unser gegenwärtiges Erleben in jedem Augenblick immer wieder neu in unserem Nervensystem erschaffen wird. Das Erleben wird meist unbewusst zusammengefügt aus neuen Reizen in Anlehnung an alte Erinnerungsmuster.
Im Leben werden durch vielfältige Auslöser nicht nur sogenannte explizite Erinnerungen aufgerufen, die dem Bewusstsein zugänglich sind (also mit Worten oder Bildern verbunden sind), sondern auch sogenannte implizite, d.h. unbewusste Erinnerungen. Man könnte diese auch Körpererinnerungen nennen. Sie beinhalten gefühlsmäßige, sinnenhafte und körperliche Anteile, die dem Bewusstsein nicht unmittelbar zugänglich sind, das Erleben aber massiv beeinflussen. Auf diese Weise wirken sich besonders frühere oder kindliche traumatische Erfahrungen sehr unangenehm im Erleben aus oder führen gar zu einer unendlichen Kette sich wiederholenden Leidens.
Die Erfahrungen sitzen buchstäblich in den Knochen und Zellen. Sie können in Innerer Achtsamkeit wieder erfahren werden, zum Beispiel über die körperliche Haltung und die Weise, wie man sich bewegt oder wie Bewegung automatisch eingeschränkt wird, oder in den Empfindungen, die in der Begegnung mit anderen auftauchen. Diese Erfahrungen können hier und jetzt in der Therapie in Achtsamkeit ausgelotet werden.
Alte Erfahrungen werden, wie gesagt, ununterbrochen aufgerufen. Sie können jedoch im Kontakt mit einer heutigen heilsamen Umgebung sinnvoll erweitert und differenziert werden. Die Bedeutung einer sicheren und entspannten Begleitung in der Therapie ist inzwischen unumstritten. Sie erlaubt es, die Erinnerung wieder aufkommen zu lassen. Ununterbrochen werden frühere Eindrücke in der Gegenwart wiederbelebt. Der Patient kann in der Therapie die Elemente seiner früheren Erfahrung in ihren Zusammenhängen erkennen. Durch ein achtsames Vergegenwärtigen von Erinnerung ist es möglich, sich noch einmal als das Kind, das man einmal war, zu erfahren. In der Vergegenwärtigung dieser vergangenen Erfahrung heute ist es möglich, neue und zusätzliche Erfahrungen zu machen. Der Patient kann wichtige Erfahrungen, die ihm damals gefehlt haben, nachholen, so wie Erich sich mit seinen schmerzlichen kindlichen Gefühlen festgehalten fühlen konnte. Das in der Kindheit geprägte Grundgefühl beeinflusst zutiefst unser Selbstgefühl und die Erfahrung unseres Daseins heute. Im Laufe der Therapie können jedoch heilsame neue Erfahrungen in frühere Erinnerungsmuster integriert werden.
Vergegenwärtigung von Erinnerungen aber macht ausdrücklich nur Sinn, wenn in der Gegenwart eine die alten Erfahrungen erweiternde heilsamere Begegnung in der Therapie möglich wird. In einer achtsamen körperpsychotherapeutischen Arbeit wird häufig spontan das Dort und Damals erinnert und kann zunehmend in Worte gekleidet werden. Das gemeinsame Verstehen dieser Erinnerung fördert eine neue Integration und Verfügbarkeit der eigenen Geschichte. Man weiß durch die neueren neurowissenschaftlichen Forschungen, dass Veränderungen in der Erfahrung der Patienten nicht einfach durch das Aufdecken frühkindlicher Traumatisierungen oder aus reiner Erkenntnis im Kopf des Patienten entstehen, sondern durch ein ganzheitliches Erleben und Durcharbeiten in der therapeutischen Beziehung. Der Einschluss der sinnenhaften, gefühlsmäßigen und verkörperten Erfahrungen in der therapeutischen Begegnung, d. h. in der „Körperresonanz“ zwischen zwei Personen oder in der Gruppe, ist inzwischen als unerlässlich anerkannt.
Die Veränderung nach wiederholenden heilsamen neuen Erfahrungen in der Therapie ist von einer organischen Veränderung des Gehirns und einer Neuverschaltung der Nervenzellen begleitet. Diese Strukturveränderung braucht jedoch Zeit und Wiederholungen, damit der Organismus diese Neuverschaltung auch schaffen kann. Unseren Patienten können deshalb in fünf- bis siebenmal jährlich stattfindenden Wochenendgruppen über längere Zeiträume mit uns arbeiten, um diese Integration zu ermöglichen. Wir ermuntern unsere Patienten, ihre in der Therapie gemachten neuen Erfahrungen so häufig wie möglich in Zeiten innerer Besinnung zu erinnern, um diese Neuverschaltung im Nervensystem zu verstärken.
An dieser Stelle reicht der Platz nicht aus, um über weitere zahlreiche Erkenntnisse der Neurowissenschaften, insbesondere auch zum Verstehen von Trauma und posttraumatischem Erleben zu berichten. Nur zwei Bemerkungen: Posttraumatisches Erleben bedeutet, dass implizite, also unbewusste Erinnerungen aufgerufen sind, somit keine ausreichende Verbindung zu Worten möglich ist. Die regulierenden Funktionen des Vorderhirns und somit von Seiten des Ichs sind damit nur sehr mangelhaft möglich. Somit ist auch in diesem Zusammenhang ein ganzheitlicher körperpsychotherapeutischer Zugang und ein ganzheitliches neues Erleben für die Heilung absolut naheliegend.
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